Altorientalische Kleinfunde

Im Zuge der Ausgrabungen im Heiligtum des Iupiter Dolichenus auf dem Dülük Baba Tepesi bei Gaziantep wurden unerwartet mehrere hundert Roll- und vor allem Stempelsiegel und über 1000 Schmuckperlen gefunden. Obwohl die überwiegende Mehrheit dieser Artefakte keinem architektonischen Befund zugewiesen werden kann, sind sie für die Kulturgeschichte von größter Bedeutung, da entsprechende Siegel bisher fast ausschließlich aus dem Kunsthandel bekannt sind. Durch die nun ergrabene Fundgruppe liegt erstmals eine für statistische Auswertungen quantitativ ausreichende Menge entsprechender Siegel aus einem gesicherten Fundort vor. So ist nicht nur eine Funktionsanalyse des Fundortes möglich, sondern darüber hinaus sind anhand der verschiedenen Siegelstile die chronologische Bestimmung und vor allem Aussagen zum Verhältnis der Kunststile in der Region zu einander möglich.
Neben wenigen Stücken, die aufgrund stilistischer Gründe in das 3. und 2. Jahrtausend v. C. datiert werden können, und wahrscheinlich von Generation zu Generation als Antiquitäten bis in das 1. Jahrtausend v. C. weitergegeben wurden, handelt es sich bei der weit überwiegenden Mehrheit der Funde um Stempelsiegel, die in eine Zeit von der Mitte des 6. bis in die 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. C. (d.h. von ca. 550 – 430/400 v. C.) datieren. Innerhalb des Corpus können aufgrund künstlerischer Merkmale verschiedene Gruppen unterschieden werden: eine spät-babylonische, eine achämenidische, eine ägyptisch-levantische und eine einheimische.
Neben Siegeln aus unterschiedlichsten Halbedelsteinen belegt eine große Menge von Stempeln, die aus unterschiedlichen Glassorten und Glasmaterialien hergestellt wurden, nicht nur eine intensive Nutzung dieses Werkstoffes, sondern naturwissenschaftliche Untersuchungen erlauben auch Rückschlüsse auf den Herstellungsprozeß. Da bis auf singuläre Ausnahmen nur Siegel, aber keine Abdrücke gefunden wurden, und die Siegelflächen keine Abnutzungsspuren aufweisen, könnte man vermuten, dass diese, ohne in wirtschaftlichen Zusammenhängen benutzt worden zu sein, auf dem Dülük Baba Tepesi deponiert wurden.
Siegel stehen im Alten Orient stellvertretend für ihren Besitzer, der mit diesen gleich seiner Unterschrift normalerweise wirtschaftliche oder rechtliche Aktivitäten besiegelt. Die große Menge Siegel am Dülük Baba Tepesi, die zudem mit einer großen Zahl von Perlen und Tierknochen vergesellschaftet ist, wurde hier wahrscheinlich von den Besuchern stellvertretend für sich selbst deponiert, wobei die Perlen zeigen, dass die Siegel an entsprechenden Ketten getragen wurden. Obwohl bisher nur geringe bauliche Reste gefunden wurden, kann man auch unter Berücksichtigung der Schnittspuren an den Tierknochen und deren Artenspektrum postulieren, dass die Funde im Zusammenhang mit Opferungen an einem Heiligtum niedergelegt wurden.

Von dem vorhellenistischen  Heiligtum hat sich außer den genannten Kleinfunden auch eine Stierkopfprotome erhalten, die im achämenidischen Stil gehalten und Teil des Bauschmucks eines Gebäudes des 6. oder 5. Jahrhunderts v. Chr. gewesen ist. Da entsprechende Funde außerhalb Irans bisher ausschließlich im Zusammenhang der achämenidischen Herrschaftselite gemacht wurden, deutet das Stück auf die Existenz eines wichtigen und reich ausgeschmückten, öffentlichen Gebäudes der Perserzeit auf Dülük Baba Tepesi hin. 
Die vertretene stilistische Bandbreite der Siegel zeigt gleichzeitig, dass dieser Ort überregional große Bedeutung im östlichen Mittelmeerraum gehabt haben muss. Denn nicht nur östliche Stile, die im Perser-Reich dominierten, sondern auch westliche Kunstströmungen sind vertreten. Die Lage des Fundortes auf einem prominenten und weite Bereiche der Region beherrschenden Berg ermöglicht es, diesen in eine Reihe mit weiteren, vor allem in Syrien bekannten Bergheiligtümern zu stellen, die in der mittleren und späten Eisenzeit Kristallisationspunkte der regionalen Religionen waren. In Ermangelung konkreter Funde kann man jedoch zurzeit nur vermuten, dass es sich bei dem Heiligtum der späten Eisenzeit auf dem Dülük Baba Tepesi um einen Tempel des Wettergottes Tešub gehandelt hat, dessen Ikonographie eindeutig als Vorbild der späteren Darstellungen des Iupiter Dolichenus diente, wie sie auch auf dem Dülük Baba Tepesi gefunden wurde.

Ansprechpartner

PD Dr. Andreas Schachner
Deutsches Archäologisches Institut
Abteilung Istanbul
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