Projektbeschreibung

 

C9: Konkurrenz und Identität in polytheistischen Gesellschaften des antiken Kleinasien – Lokale Kulte zwischen Abgrenzung und Integration

 

Das Projekt untersucht die Frage, unter welchen Bedingungen und mit welchen Instrumenten Religion in einer sich durch religiöse Pluralität auszeichnenden Gesellschaft integrative Funktion übernehmen konnte. Ziel ist es, die strukturell unterschiedlichen Formen herauszuarbeiten, in denen sich in polytheistischen Gesellschaften ´Konkurrenz` einerseits, ´Identitätsbildung` andererseits äußern bzw. vollziehen konnte, um so zu einem differenzierteren Verständnis religiöser Mentalität antiker Gesellschaften zu gelangen.
Für eine solche Fragestellung ist das östliche Kleinasien mit seiner vielgestaltigen Götterwelt ein zentraler Raum, zumal manche der hier ansässigen Kulte nicht nur regionale Bedeutung besaßen, sondern im gesamten Imperium Romanum Anhänger fanden. Die Transformation von Lokalkulten zu reichsweit verbreiteten Religionen hat zur Folge, dass sie primär durch Zeugnisse überliefert sind, die auf dem Boden des heutigen Europa gefunden wurden. Deren Erforschung hat zu einem egalisierenden Konzept von ´orientalischen` Religionen geführt, welches die Beurteilung sämtlicher Kulte, die ihren Ursprung im Nahen Osten haben, lange Zeit prägte. Und obwohl neuere Studien Divergenzen und Kontraste zwischen den einzelnen Kulten stärker in den Blick rücken, sind die dringend notwendigen landeskundlichen Untersuchungen in den Heimatkontexten der jeweiligen Gottheiten weitgehend ausgeblieben.
Einer der wichtigsten dieser Kulte des Imperium Romanum ist der des Iuppiter Dolichenus. Seit 2001 führt die Forschungsstelle Asia Minor der Universität Münster Grabungen in dessen Zentralheiligtum in Doliche (Südosttürkei) durch. Damit ist es möglich geworden, eine bedeutende ´orientalische` Religion in Hinblick auf Genese und regionale Kontexte sowie ihre Transformation unter wechselnden politischen und kulturellen Rahmenbedingungen zu untersuchen. Die Ergebnisse der Feldforschungen bieten die einzigartige Möglichkeit, exemplarisch die komplexe Gestalt des Kultes, eingebunden in lokale, regionale und globale Diskurse, und seine Entwicklung im Wechselspiel von Fremdeinflüssen, sich ändernden Machtkonstellationen, aber auch vor dem Hintergrund seines beispiellosen Aufstiegs vom Lokal- zum Reichskult zu untersuchen. Dies gilt umso mehr, als sich zeigt, dass eine Kultkontinuität von der Eisenzeit bis zur endgültigen Christianisierung in der Spätantike existiert. Doliche ist die Schnittstelle, an der Bild und Idee eines genuin ´orientalischen` Religionskonzepts bewahrt und schließlich so erfolgreich ´globalisiert` wurden, dass sie den Weg bis weit in den Westen fanden, von wo aus diese wiederum auf die Ausgestaltung des Kultes in seiner Heimat zurückwirkten.
Durch die Konzentration auf diesen für die Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit zentralen Kult und einen Ansatz, der das epigraphische und archäologische Quellenmaterial analysiert und mit Untersuchungen der historisch-topographischen Kontexte verbindet, sollen die unzureichenden Kenntnisse über den Kult des Iuppiter Dolichenus entscheidend erweitert werden. Die Einbeziehung weiterer Kulte der Region, insbesondere aus der Kommagene und Kyrrhestike, für die ebenfalls vor Ort neue archäologische Zeugnisse untersucht werden können, wird dazu beitragen zu verstehen, wie angesichts häufig wechselnder politischer Herrschaften und kultureller Umbruchsituationen Transformations- und Akkulturations-prozesse im Spannungsverhältnis ´lokale Kulttraditionen versus überregionale Fremd-einflüsse` funktionieren, wie religiöse Traditionen in Konkurrenz zu Hellenisierungs- und Romanisierungsprozessen bewusst tradiert oder wiederbelebt wurden, um auf lokaler bzw. regionaler Ebene im Bereich der Religion die eigene Identität zu wahren - bei gleichzeitigem Verlust der politischen Autonomie.